24.12.2010

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wenn um mitternacht


wenn um mitternacht
die letzten gäste kommen und gehn
wenn die gedichte den besitzer wechseln
wenn der regen illuminiert
wenn der zeiger mitternacht verlässt
und wir, allein gelassen, nicht wissen wohin.

kein wolf, kein reh
still ruht der schnee
kein du kein ich
du hörst mich nicht
der himmel aber
bittet um eine geschichte auf erden
uns soll sie werden.

komm im flutlicht der sterne
damit wir uns nicht verfehlen
und mach uns satt
mit bildern die warten
der mond steht nicht im wege
und ein engel treibt zur eile.


elisabeth borchers
[aus: eine geschichte auf erden, gedichte - suhrkamp]

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foto: marianne rieter




am himmel grüne luftballons.



und immer ist es dieser tag,
ein tag taghell, ein flügel,
der nicht brechen darf,
der uns noch fehlt.

elisabeth borchers


Wider Erwarten so gar nichts Zerbrechliches. Ausser den feingliedrigen Händen mit dunkelblauen Adern unter der dünnen, durchsichtigen Haut. Kaum wahrzunehmen ihr Zittern, wenn die Augen müde werden und sie die Lupe zu Hilfe nimmt, wenn sie einen Schluck Wasser trinkt, ein weiteres Buch aus der Handtasche zieht. Kleine Füsse in roten Schuhen (was mich schmunzeln lässt), ein Deux-Pièces aus rosa Wolle, eine Perlenkette, goldene Ringe, roter Lippenstift.

Ein Strahlen geht von ihr aus. Die Worte von Arnold Stadler*, dass man vollzählig ist, wenn sie den Raum betritt, könnten stimmiger nicht sein.

Sie erzählt, dass ein Freund (war es Krolow?) bereits einen 'nächsten Termin' hatte nach dem Begräbnis der Kaschnitz und durch die Strassen gerast ist in seinem Jaguar. Dass ein Umzug ansteht, was sich nicht einfach gestaltet mit ihren zehntausend Büchern. Dass 'der Krug' der Krug ihrer Grossmutter ist, in dem sie die Milch stocken liess. Sie erzählt von den Lichtern in den Fenstern der Wohnung beim Nachhausekommen und davon, dass ihr die hellen Fenster gefehlt haben nach dem Tod der Mutter. Sie erzählt, wie sie (die immer gearbeitet hatte) staunte, wenn ein Autor ihr sagte, er fahre nach Paris, um einen Roman zu schreiben; staunte, dass man das einfach so machen kann, dass man die Zeit dazu hat, und das Geld. Und Material für einen ganzen Roman. Sie liest ein Gedicht oder zwei und erzählt. Keine Erklärungen. Kurze Geschichten, Episoden. Keine Notizen. Keine Zettel in den Büchern. Nur eine Karte, die sie hie und da zur Hand nimmt, bevor sie weiterblättert und in Ruhe nach dem nächsten Gedicht sucht.

Sie liest. Sie spricht. Mit dunkler, sicherer Stimme. Konzentriert. Langsam. Mit bedächtigen Pausen. Gewollt nach dem einen und einzigen, nach dem richtigen Wort suchend. Das sie dann sagt in ihrer Klarheit. Oder auch nicht. Wenn sie es für sich behält, dann mit einem Lächeln und diesem leisen, entfernten Blick in die Mitte der Gedanken – ihrer und unserer, die wie kleine Vögel lautlos kreisen in diesem sonnengefluteten Raum. Draussen vor den Fenstern der Fluss. Am Himmel grüne Luftballons.


marianne rieter
zur lesung von elisabeth borchers vom 23.09.2007 bei galerie&poesie in zürich



*im Nachwort zu 'Alles redet schweigt und ruft'









9 Kommentare:

Gerhard hat gesagt…

Ein wunderschönes Gedicht zur Weihnachtszeit ...
Gerhard

marianne hat gesagt…

danke!

ein schönes fest und herzliche grüsse
marianne

Jorge D.R. hat gesagt…

Ein schönes Gedicht, das meine Stimmung gut trifft.

eva hat gesagt…

"wenn die gedichte den besitzer wechseln ..."

wie ich sie verehre, die ein solches gedicht schaffen kann.

((()))

Quer hat gesagt…

Danke für das wunderschöne Borchers-Gedicht, Marianne, und frohe Weihnachten dir!

Brigitte

tabea hat gesagt…

so schön!

Frohe Weihnachten!
*umarmung*
tabea

marianne hat gesagt…

:-)

vielen und lieben dank und auch ein schöne weihnachtsfeiertage!

Hermann Josef hat gesagt…

Liebe Marianne,
auch heute an dieser Stelle nochmals ein ganz schönes und inniges Weihnachtsfest, viele gute Begegnungen und Lichtreisen durch die Schneezeit.
Von Herzen ... und wir sehen uns 2011.
Hermann Josef

marianne hat gesagt…

herzlichen dank, lieber hermann josef, das wünsche ich dir und annemarie von herzen ebenfalls.
ich melde mich in den kommenden tagen... und ja, wir sehen uns!

alles liebe.